Die Schlagzeilen in den Finanzmedien vom Mittwoch erinnerten an die Eurokrise: Bloomberg und Monetary Occasions berichteten von steigenden Renditen für Staatsanleihen. Doch anders als vor mehr als zehn Jahren standen nicht die Bonds der europäischen „Südstaaten“ im Blickpunkt, sondern neben den amerikanischen Staatsanleihen (Treasuries) waren vor allem die deutschen Papiere (Bunds) betroffen. Die US-Papiere kratzten an der Fünf-Prozent-Marke, die zehnjährigen Bunds notierten zwischenzeitlich bei 3,01 Prozent. Zugleich verbilligten sich die Papiere. Noch im Januar waren die Bunds bei 1,8 Prozent gelegen. Die Höhe der Renditen bei Staatsanleihen zeigt in der Regel, für wie risikoreich Anleger eine Volkwirtschaft halten. Zu Zeiten der Niedrigzinsen hatten Investoren von deutschen Papieren überhaupt keine Rendite mehr erhalten, im Gegenteil: Sie bezahlten dafür, dass sie ihr Geld in Deutschland „parken“ durften. Deutschland galt – vor allem im Vergleich mit Italien – als „sicherer Hafen“. Dies hatte den Vorteil, dass der Staat reichlich Schulden machen konnte. Bei höheren Zinsen werden die Schulden teurer – weshalb der amtierende Bundesfinanzminister Christian Linder seit einiger Zeit bei Ausgaben auf die Bremse tritt. Denn die Wahrnehmung von Deutschland als Hort der wirtschaftlichen Stabilität ist verflogen. Zwar glaubt Folker Hellmeyer, Chefökonom der Netfonds AG, nicht, dass es sich bei dem Abverkauf der einst als krisensicher eingestuften deutschen Papiere um einen nachhaltigen Development handelt. Hellmeyer sagte der Berliner Zeitung, dass diese Entwicklung die logische Folge der Zinserhöhung der Europäischen Zentralbank (EZB) sei. Außerdem zeigten mehrere Indikatoren, dass sich die Lage kurzfristig wieder entspannen werde: So sei der Rückgang der Erzeugerpreise noch nicht berücksichtigt, weil das Sinken der Verbraucherpreise noch ausstehe. Im August lagen die Erzeugerpreise 11,5 Prozent tiefer als ein Jahr zuvor, wie das Statistikamt Eurostat am Mittwoch in Luxemburg mitteilte. Verglichen mit dem Vormonat Juli stiegen die Preise allerdings um 0,6 Prozent. Die Energiepreise gaben im Jahresvergleich mit 30,6 Prozent am deutlichsten nach. Auch Vorleistungsgüter waren günstiger als vor einem Jahr. Für Investitions- und Verbrauchsgüter musste allerdings mehr gezahlt werden.
Die Bond-Märkte reagieren im übrigen traditionell mit einer Zeitverzögerung von etwa zwölf Monaten. Hellmeyer glaubt, dass sich die Renditen für zehnjährige Bunds in den kommenden sechs Monaten bei zwischen 2,50 und 2,70 Prozent einpendeln würden. Und in der Tat: Bereits am Mittwochnachmittag signalisierte der Bond-Markt wieder eine gewisse Entspannung.
Doch Hellmeyer ist überzeugt, die Bundesregierung müsse schleunigst umsteuern, will sie nicht das Vertrauen der Finanzmärkte verspielen. Im Vorjahr habe es einen Nettokapitalabfluss aus Deutschland von 132 Milliarden Euro gegeben – eine bemerkenswerte Entwicklung. Hellmeyer sagt, noch habe Deutschland von den Ratingagenturen die Höchstnote Triple A erhalten. Doch diese gute Bewertung sei nicht in Stein gemeißelt: „Wenn die Bundesregierung nicht rasch einen Kurswechsel vornimmt, dann könnte es hinsichtlich der Bonität Deutschlands zu weiteren Risikoaufschlägen kommen,“ sagt Hellmeyer. Für ihn ist der wichtigste Hebel die Energiepolitik: „Wir müssen die Energiepreise wieder auf ein Niveau bringen, auf dem die deutsche Industrie wettbewerbsfähig produzieren kann.“ Dazu müssten alle Maßnahmen ergriffen werden, die kurzfristig Wirkung zeigen: Ein Industriestrompreis ist für Hellmeyer genauso nötig wie die Diskussion über Kernenergie und eine aktive Friedenspolitik in Europa. Zwar sei die Errichtung von Flüssiggasterminals (LNG) für Notzeiten richtig, weil Deutschland in der internationalen Geopolitik keine führende Rolle spiele und sich daher für eine Krise wappnen müsse. Doch müsse Deutschland auf mittlere Sicht darauf dringen, seine Energiepolitik unter Beachtung des Grundsatzes der „Nichteinmischung“ praktizieren zu können. Weiters nennt Hellmeyer eine große Steuerreform sowie Investitionen in Infrastruktur und Bildung als Voraussetzung für eine „Ertüchtigung“ der deutschen Gesellschaft. Hellmeyer: „Wir müssen auf allen Ebenen weg vom Anspruchsprinzip, hin zum Leistungsprinzip.“ Hellmeyer verweist darauf, dass andere europäische Länder Deutschland bereits überholt hätten: Die aktuellen Zahlen des Internationalen Währungsfonds (IWF) würden zeigen, dass nur noch Argentinien schlechter dastehe als Deutschland. „Die anderen Länder – vor allem Frankreich, Spanien, Irland, Portugal oder auch Griechenland hätten ihre Efficiency nach der Eurokrise deutlich verbessert“. Es sein falsch, wenn Wirtschaftsminister Robert Habeck „beschönigend von einer Konjunkturflaute“ spreche: „Deutschland hat nur noch zwei bis drei Jahre Zeit, um ein strukturelles ökonomisches Drawback zu lösen“. Wenn dies nicht gelinge, werde sich dies bei „Deutschlands Rolle in Europa signifikant widerspiegeln“. Deutschland könnte seine Ausnahmestellung als Exportnation in der Eurozone verlieren und zu einem Importland werden. Der damit einhergehende Verlust an ökonomischer Bedeutung habe Folgen, die weit über die Wirtschaft hinausgingen, so Hellmeyer: „Wir sprechen auch von einem politischen Machtverlust in Europa.“
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Zeit dazu sei noch vorhanden, wenngleich nicht unbegrenzt. Hellmeyer: „Wir leben von der Substanz, die die Generationen vor uns geschaffen haben. Doch irgendwann ist die Substanz aufgebraucht – und dieser Prozess hat bereits begonnen. Wir müssen unsere Reserven nicht in den Konsum stecken, sondern müssen investieren.“